Oh, es ist so kalt!

Ich renne durch die Gegend. Plane, organisiere und stolpere von Termin zu Termin. Farbe kaufen, Auto ummelden, Steuerberater, Gewerbeamt, Ausbildungen vorbereiten, Essen machen, Yoga unterrichten, Jahrespläne zusammenstellen, beim Gehen Mails beantworten…ich stolpere schon wieder, rutsche aus auf der winterlichen Straße und fliege fast gegen…was eigentlich?

Scheinbar aus dem Nichts steht plötzlich eine riesige Eiche vor mir. „Wie kommt um Himmels Willen diese Eiche hierher?“, denke ich schon fast ärgerlich bei mir. Nach einem Blick in meine Umgebung denke ich mir dann: „Wie um Himmels Willen komme ich hier her?“ Ich schaue wieder zur Eiche. Da stehen wir nun. Der Baum und ich. Mitten auf einem verschneiten Feld. Plötzlich ist alles wie verzaubert. Die Landschaft ist in winterlich weiße Stille gehüllt. In der Ferne glaube ich einen Fuchs zu erkennen und ich höre tatsächlich ein Rotkehlchen. Kleine Schneeflocken glitzern im Sonnenlicht.

Hier, mitten in der Natur spüre ich zum ersten Mal heute wie stark meine Schultern zu den Ohren gezogen sind. Mein Nacken schmerzt richtig. Zum ersten Mal nach Tagen des Rennens und Organisierens bemerke ich, dass ich total überarbeitet bin. Mein Atem ist flach, mein Körper erschöpft, meine Seele schwer. Tausende wirbelnde Gedanken wollen mir einreden, dass ich schneller, höher, besser und weiter muss. Sie lassen meine innere Stimme kaum mehr durch. Ich schaue wieder zur schneebedeckten Eiche. Es scheint fast so, als hätte sie sich mir einfach in den Weg gestellt. Als wollte sie mich in ihrer sanften, winterschlafenden Stärke daran erinnern, dass es doch Winter ist: Zeit des Stehenbleibens, des Zurückziehens der Sinne, der Innenschau, des Neuordnens… Ich bemerke, wie sich meine Mundwinkel auf den Weg Richtung Ohren machen und mir dieser Satz eines Indianerstammes wieder einfällt: “Das was passiert, ist das Einzige was passieren konnte.” Wahrscheinlich musste ich mich erst so hektisch, voll beladen und völlig abwesend laufen, stolpern und der Eiche in die „Arme fallen“…

Getragen von diesen Gedanken und dem tiefen Wunsch nach Ruhe und Rückzug, mache ich mich auf den Heimweg. Zum ersten Mal heute schaue ich in die Gesichter der Menschen, welche mir auf meinem Weg nach Hause begenen. Viele Blicke sind leer oder aufs Handy gerichtet. Fast alle sehen müde und abgekämpft aus. Die Schultern zu den Ohren gezogen, die Gesichtsfarbe fahl. So wie ich, denke ich mir fast schon erschrocken, bevor ich stolperte. Zu Hause angekommen, schiebe ich mich an meinen Umzugskantons vorbei in meine noch chaotische „Ich-bin-gerade-erst-eingezogen-Küche“ und koche meinen Lieblingstee. Ich drehe beherzt meine To-Do-Liste so um, dass das Blatt herrlich winterweiß ist und rolle meine Yogamatte aus. Geplant war heute eine super kraftvolle und schweißtreibende Vinyasa-Praxis. Ich nehme einen großen Schluck meines Lieblingstees und denke bei mir: „AUF KEINEN FALL!“

Nach meiner heutigen Begegnung mit der Eiche, vielen Jahren sehr kraftvoller und oftmals auch überfordernder Asanapraxis (ok und auch nach den letzten Tagen der Überarbeitung), den Blicken in die gehetzten und leeren Gesichter und nicht zuletzt auch durch die Erinnerung an all die Menschen, die zu mir als Yogalehrerin und Masseurin kommen, weil sie überarbeitet, unglücklich, erschöpft und gehetzt sind, zieht es mich in die Stille. Diese Stille kann mir Yin Yoga schenken.

Für einige dynamische Momente lasse ich meine Lieblingsmusik laufen, trinke noch eine paar Schlucke dieses köstlichen Tees, zünde Kerzen an, (manchmal winke ich auch meinen neugierigen Nachbarn), springe umher, schwinge Arme und Beine, und schüttele mich dann ganz sanft federnd für einige Minuten. Mein fasziales Netzwerk liebt diese Bewegungen und mein Herz wird ganz leicht. Diese Bewegungen bereiten meinen Körper wundervoll auf die Passivität und meinen Geist auf das Abenteuer Innenschau vor. Ich setze mich, atme tief durch. Jetzt kann ich eintauchen, in dieses sanfte, geborgene Gefühl.

Der Tag war bewegt, aktiv, und weit. Diese Qualitäten werden in der chinesischen Lehre vom gesunden und langen Leben als Yang bezeichnet. Um aberdie Lebensenergien (Chinesisch: Qi, Sanskrit: Prana) ausgewogen und gesund in unserem System zu erhalten, ist es notwendig, sich auch in die Passivität, dem Weichwerden, dem Loslassen hinzugeben. Diese Qualitäten werden in dieser Lehre als Yin bezeichnet. Um dieses passive und losgelassene Seingeht es im YinYoga.

In einer Welt, die dem modernen Menschen eine immer höhere Lebensgeschwindigkeit abzuverlangen scheint, werden Inseln der Ruhe immer seltener. Die wenigen Momente zwischen zwei Terminen werden mittlerweile zu oft für die Pflege von virtuellen Freundschaften oder dringender E-Mail Korrespondenz genutzt. Wenn dann doch mal ein Moment der Ruhe kommt, erlebe ich immer wieder, wie auch ich mich selbst antreibe und fast schon ein schlechtes Gewissen habe, weil ich nichts mache.

Die Lichtverschmutung fast aller Städte ist so hoch, das wir kaum noch wissen, wann Tag und wann Nacht ist. Selbst für kurze Wege wird das Auto benutzt, denn wir haben ja keine Zeit. So fällt es oftmals gar nicht auf, in welcher Jahreszeit wir uns gerade befinden. Viele Menschen haben den Bezug zur Natur und dadurch auch den Bezug zum eigenen Körper, zum eigenen Wohlsein verloren. Alles in allem kommt vor allem die wichtige und notwendige „Yin Zeit“ zu kurz. Welche Folgen das nicht nur für den Einzelnen sondern auch für die westlich geprägte Gesellschaft hat, kommt immer mehr zum Vorschein. Krankheiten wie Burnout, Herzinfarkte und viele psychische und physische Störungen lassen sich mit großer Sicherheit auf das Fehlen des Konzeptes von YIN, der entspannenden Regeneration (das meint nicht den Nachtschlaf und auch nicht das vermeintliche Entspannen vor dem Fernseher!) zurückführen. So wie dem Einatmen das Ausatmen, die Nacht dem Tag folgt, der Winter dem Sommer, dem Schlaf das Wachsen, dem Leben dem Tod, so ist die natürliche Welle des Lebens Anspannung und Anstrengung – Entspannung und Loslassen. Yin und Yang.

Auch ich spüre in diesem Moment die Folgen meines zu YANG-lastigen Tages. In den ersten Momenten fällt es mir noch sehr schwer, die Alltagsgedanken ruhiger werden zu lassen. Auch überkommt mich anfangs die Idee: Ich muss jetzt aber doch viiieeelll tiefer in diese Asana kommen. Dann beobachte ich mich selbst. Akzeptiere meine Gedanken und Emotionen. Vor allem bin ich in diesen Momenten nachsichtig mit mir und schenke meiner Atmung die volle Aufmerksamkeit. Und plötzlich passiert es. Ich bin gelassen getragen von den Wellen meiner Atmung. Ich spüre das Pulsieren der Lebendigkeit, des Qi, tief in mir. Mein Herz darf weich werden und fühlen. Mein Körper darf sich ausruhen und regenerieren. Mein Geist erlebt köstlich heilsame Stille. Anspannungen verwandeln sich in Nachgiebigkeit. Ich kann richtig fühlen, wie meine Seele aufatmet. Ich liebe es wieder, das Leben! Jetzt  und hier! Yin und Yang.

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